Sonntag, 22. August 2010

Empathie statt Aktionismus

Wichtiger Artikel aus dem Ärzteblatt:

ARZT ODER MEDIZINER

Empathie statt Aktionismus

Der Mediziner mag Naturwissenschaftler sein, der Arzt aber ist Kulturwissenschaftler, jedoch nie Wirtschaftswissenschaftler.
Eine der frühesten Erfahrungen in meiner Sozialisation als Arzt war die Trennung von „medizinisch“ und „ärztlich“. So hörte ich von meinem Arztvater, später auch von dem Landarzt, bei dem ich famulierte, häufig den Satz: Die oder jene Maßnahme wäre medizinisch zwar möglicherweise indiziert, ärztlicherseits aber nicht sinnvoll oder verantwortbar. Unter medizinisch wurde damit die naturwissenschaftliche, rationale und in ihren Kausalitäten eindeutige Bedingung, unter ärztlich die humane, psychologische, kulturwissenschaftliche und in ihrer Komplexität undurchschaubare Gesamtsituation gefasst. In- zwischen ist der Arzt mehr und mehr zum Mediziner geworden, und er soll es auch sein: Die Änderung der Nomenklatur belegt dies eindeutig. So sind aus Kliniken „medizinische Zentren“ geworden, medizinische Notwendigkeiten haben den höchsten, ja einzigen Stellenwert. Psychosoziale Maßnahmen haben allenfalls den Sinn, den Patienten zur Mitarbeit, zur Compliance, zu drängen, oder sein Los erträglicher zu machen – ohne Hinterfragen der Zielrichtung.
Gerade diese unterscheidet sich beim Arzt von der eines Mediziners ganz beträchtlich: Der Mediziner lebt von der Pathologie, der Arzt von dem Bedürfnis, den sich ihm anvertrauenden Mitmenschen zu helfen, gesund zu werden und zu bleiben. Gute Krankenversorgung sei angewandte Wissenschaft im Einzelfall, sagt Jürgen Schölmerich, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (1). Es werde zu wenig Pathophysiologie und experimentelle Herangehensweise gelernt. Die Wortwahl lässt tief blicken: Der Kranke soll unter pathophysiologischen Gesichtspunkten „versorgt“ und experimentell angegangen werden, nach Versuch und Irrtum. Dazu reichen die Mittel nie: Aufwendungen für neue Therapien und diagnostische Verfahren werden sämtliche Einsparungen übertreffen
Medizin, so wie sie in Kliniken, Medizinischen Versorgungszentren und Praxen betrieben wird, besteht im Wesentlichen aus der Verschreibung von Medikamenten. Der größte Teil der ärztlichen Tätigkeit wird mit der Indikationsstellung, Auswahl, Wirkungsbeurteilung von Medikamenten, der Sicherstellung der Compliance sowie in großem Um- fang auch mit der Behandlung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen verbracht. In dem knappen Zeitraum, der für Kommunikation und Interaktion zwischen Arzt und Pa- tient zur Verfügung steht, ist der Inhalt häufig auf diese Thematik reduziert, wirklich Wichtigeres bleibt auf der Strecke. Schon bei Informationsabenden für Schwangere beispielsweise, bei der so wichtige Dinge wie Vorbereitung auf die Elternschaft, bindungsfördernde Maßnahmen und frühe Hilfen behandelt werden sollten, geht es bei den meisten Fragen an den Pädiater um die Impfungen. Nur hierfür, für die Medikation, werden die Ärzte als kompetent erachtet.
Unsere Vorstellung von Medikamenten im Allgemeinen ist unvollständig – sowohl in Bezug auf die Wirksamkeit als auch auf die Folgen. Hersteller und Meinungsführer verbreiten viel zu positive, unvollständige und „geschönte“ Angaben, die erst dann widerrufen werden, wenn noch ein neueres, teureres und damit besseres Medikament auf den Markt kommt. Dann wird der vorher hochgepriesene Vorgänger für wirkungslos erklärt; oder aus Kontraindikationen werden Indikationen. Wirkliche Langzeituntersuchungen sind rar, werden nicht wahrgenommen oder uminterpretiert, und in der Regel geht es dabei auch nicht darum, ob es dem Patienten insgesamt gut oder besser geht, sondern allenfalls um die Zielsymptomatik.

Demnach sind alle mehr oder weniger krank
Heute leiden viele Menschen an den unterschiedlichsten Problemen, die als behandlungsbedürftig betrachtet werden können, aber nicht müssen. Viele Erkrankungen werden erst durch die vermeintliche Verfügbarkeit effektiver Behandlungsmethoden als solche definiert – ein Prozess, den die Pharmaindustrie mit „disease mongering“ (2) höchst wirkungsvoll begleitet, wenn nicht gar initiiert. So wurde erst mit der Etablierung der Stimulanzientherapie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom als Erkrankung in der heutigen Form wahrgenommen, selbst die Depression – oder das Bewusstsein dafür – erst durch die Verfügbarkeit von Antidepressiva: „Alles wird zur Depression, weil Antidepressiva auf alles wirken. Man kann alles behandeln, man weiß aber nicht mehr genau, was heilbar ist.“ (3) Diese Erkrankungen wurden natürlich nicht erschaffen, wohl aber ein Bewusstsein für das Vorliegen einer Behandlungsbedürftigkeit, so dass ein Markt geschaffen wird.
Forschung im Sinne naturwissenschaftlicher Erforschung der Lebensvorgänge ist notwendig. Die Ergebnisse und Fortschritte sind faszinierend und unüberschaubar. Molekulare Mechanismen, Rezeptoren und Bindungsstellen, die in Modellen oder an einzelnen Zellen beforscht werden, sind im Modell nachweisbar und schlüssig, im ge- samten Organismus aber Spekulation. Die sofortige und unkritische Umsetzung biologischer Erkenntnisse in die Therapie hat zum Teil lächerliche Formen angenommen – man denke an die gentherapeutischen Versuche der Mukoviszidosebehandlung nach Entdeckung der Lokalisation des Gendefekts.
Wenn man von dem umfassen- den Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation als einem Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens ausgeht, kann es keine vollständige Gesundheit geben, sondern nur Annäherungsversuche an dieses Ideal. Demnach sind alle mehr oder weniger krank und kommen als „Leistungsempfänger“ des Gesundheitssystems infrage.
Wer soll also die Kriterien für die Definition von gesund oder krank festlegen? Die kulturelle Dimension als ein Parameter für normal (gesund) oder anormal (krank) ist allenfalls in der Psychiatrie thematisiert, nicht jedoch andernorts in der Medizin. Was sind die Kriterien für „krank“? Wenn man dies objektiv und kulturunabhängig feststellen will, kann man dies auf verschiedenen Ebenen versuchen. Juristisch gesehen ist auf jeden Fall Eigen- oder Fremdgefährdung und Gesetzesbruch Maßstab für Interventionsnotwendigkeit, was auch in Fällen elterlichen Sorgerechtsentzugs bei behandelbarer Erkrankung des Kin- des zum Tragen kommen kann, vor allem jedoch bei Unterbringungen bei psychischen Erkrankungen, im ärztlichen Alltag aber eine weniger bedeutsame Rolle spielt. Rein statistisch scheint eine objektive Definition gewisser Krankheitskriterien als einer Standardabweichung von einem Mittelwert möglich. Wenn man aber beim Körpergewicht ausgehend vom statistischen Mittelwert Adipositas als Krankheitszustand definiert, wird dies in Subsahara-Afrika anders ausfallen als in einer westlichen Industriegesellschaft. Wenn ein Sechstel aller Menschen im Laufe des Lebens eine behandlungsbedürftige depressive Episode durchmacht, ist das dann „normal“? So steht und fällt auch die statistische Definition mit dem zugrunde liegenden Normalitätsbegriff.

Die Salutogenese ist immer noch zu wenig bekannt
Bei der Bestimmung einer Erkrankung liegt in der Regel eine Symptomkonstellation vor, die oft, aber nicht immer, kausal erklärt und häufig weder zuverlässig noch gültig reproduziert werden kann. Beispiel Pneumonie: Wir haben eine Symptomatik von deutlichem Krankwirken – vielleicht bebende Nasenflügeln und schnellere Atmung, auch Husten. Da gibt es die „klinische Pneumonie ohne radiologisches Korrelat“ oder „die radiologisch als Pneumonie imponierende Verschattung ohne klinische Zeichen einer Pneumonie“. An was soll man sich halten? Was ist erst die so häufig diagnostizierte „angehende Pneumonie“? In kaum einem Bereich der Pädiatrie wird mehr Unsinn produziert als in der Diagnosestellung einer Pneumonie, die Übereinstimmung zwischen Symptomatik und Klassifikation (Reliabilitäts- und Validitätskriterien) ist gering. Ähnliches gilt für die Otitis media: Wann liegt ein Erguss vor, wann eine katarrhalische, wann eine bakterielle Otitis – und wenn, warum? Hier findet man ein Getümmel von Meinungen statt der geforderten wissenschaftlichen Klarheit, noch komplizierbar durch Laboruntersuchungen. Findet man bei einer bakteriologischen Untersuchung einen Keim, ist es eine Besiedlung oder eine Infektion? Ursache oder Folge?
Wir gehen davon aus, dass das, was uns gesund erhält, die Salutogenese, in der Regel ebenso wenig bekannt ist wie das, was krank macht, die Pathogenese. Selbst ein heute gut erforschtes „Wie“ erklärt noch nicht das „Warum“. Das gilt auf der körperlichen ebenso wie auf der psychischen Ebene. Ehe nun blindes therapeutisches Handeln, also therapeutischer Aktionismus, in einem komplexen System mehr Schaden als Nutzen anrichtet, sollten Ärzte angesichts dieses Unverständnisses den Patienten empathisch begleiten und stärken, aber vor allem mechanische, psychische und soziale Heilungshindernisse erkennen und be- seitigen. Das bedeutet nicht, im Sin- ne eines therapeutischen Nihilismus nichts zu tun, sondern die Bedeutung der menschlichen Beziehung in den Heilungsprozess, der immer ein innerer Selbstheilungsprozess ist, einzubeziehen.

Ressourcen wecken statt Patienten versorgen
Seiner „Diätetik der Seele“, einem der erfolgreichsten Ratgeber des 19. Jahrhunderts (4), stellt Ernst von Feuchtersleben das Motto „Valere aude“ – „Wage, gesund zu sein“ voran und entwickelt eine bemerkenswerte Philosophie des Wollens, die die Macht des menschlichen Geistes über den Leib veranschaulicht. Immanuel Kant spricht gar von der Macht des Gemüts, welches durch den bloßen Vorsatz krankhafter Gefühle Meister wird. Natürlich reicht es nicht aus, dem Patienten zu sagen, „reißen Sie sich doch zusammen“. Das wäre ein völliges Fehlverständnis dieses Ansatzes. Aber sich um die eigene Gesundheit zu bemühen, die Salutogenese vor die Pathogenese, die Resilienz vor die Defizienz zu stellen, Ressourcen zu wecken statt den Patienten zu „versorgen“, das kann ein Weg aus dem bodenlosen Abgrund sein, weg vom Gesundheitswahn zum selbstbestimmten Leben, zum „Leben ohne Drogen“.


Dr. med. Stephan Heinrich Nolte
Kinder- und Jugendarzt E-Mail: shnol@t-online.de

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